In der aktuellen Studie der Professur für Kriminologie der JLU Gießen zur Betroffenheit von Gewalt und Aggressionen von Lehrkräften in Hessen, die im Auftrag des dbb Hessen im Herbst 2022 durchgeführt wurde, berichten diese von breit gestreuten Gewalterfahrungen. Fast drei von vier Befragten haben in ihrer bisherigen Berufsausübung (mindestens einmal) verbale Beschimpfungen oder Beleidigungen erlebt, davon fast 40 % der Lehrerinnen und Lehrer innerhalb der letzten 12 Monate. Auch Bedrohungen sind häufig: Fast die Hälfte wurde während des gesamten Berufslebens bereits verbal oder körperlich bedroht, 15,9 % machten diese Erfahrung in den letzten 12 Monaten. Von einer Beschimpfung, Beleidigung, Verleumdung oder Bedrohung über das Internet war etwa jede dritte Lehrkraft betroffen.
Physische Gewalterfahrungen werden vergleichsweise seltener berichtet. Etwa jede fünfte Person wurde bereits Opfer von (mindestens) einem körperlichen Angriff im beruflichen Kontext (4,1 % innerhalb der letzten 12 Monate). Eine Person berichtet von einem Tötungsversuch. Jeder zehnte Befragungsteilnehmende gibt an, im Laufe des Berufslebens angespuckt oder sexuell belästigt/angegriffen worden zu sein; 1,2 bzw. 1,6 % der Befragten innerhalb der letzten 12 Monate. Es werden auch Sachbeschädigungen am Eigentum berichtet (16,7 % im gesamten Berufsleben bzw. 1,8 % in den letzten 12 Monaten). In weiteren Antworten wird das Ausmaß der erlebten Aggressionen mit den psychischen und physischen Folgen deutlich.
Die Ergebnisse zeigen, dass Schulen unter Druck stehen und viele Lehrerinnen und Lehrer strukturelle Defizite wie auch ansteigende Probleme mit Gewalt und Aggressionen berichten. Dabei spielt die Corona-Krise eine Rolle, ist aber keineswegs die alleinige Ursache für hier geäußerte Problemlagen. Während sich die Forschung über Jahrzehnte mit dem Problem von Gewalt und Aggressionen unter den Schülerinnen und Schülern befasst hat und das Schlagwort „Gewalt an Schulen“ mit gewalttätigem Verhalten von Kindern und Jugendlichen fast automatisch gleichgesetzt wurde, zeigen die Ergebnisse dieser Studie die weitere Facette der Aggressionsproblematik deutlich auf: Lehrerinnen und Lehrer haben einen wichtigen und erfüllenden, für viele aber auch anstrengenden, gelegentlich überfordernden und von Problemen, Abwertungen, Aggressionen und Gewalt geprägten Beruf.
Über die Corona-Problematik hinaus, die in der Zeit der Schutzmaßnahmen und Lockdowns gravierende Veränderungen des Schulalltags mit sich brachten, haben Schulen heute nach einer Öffnung der Schulen mit den sozialen Folgen dieser mehr als zwei Jahre dauernden Ausnahmesituation zu tun. Sehr häufig werden in der Folge ein Anstieg aggressiver Verhaltensprobleme, eine geringere Frustrationstoleranz, fehlende oder schlecht ausgeprägte soziale Kompetenzen, Leistungsschwierigkeiten, mangelnde Motivation bei Schülerinnen und Schülern und auch ein aggressiverer Umgang der Erziehungsberechtigten mit Lehrerinnen und Lehrern ausgemacht. Hinzu kommen weitere gesellschaftliche Krisen, die gesamtgesellschaftlich Aggressionen ansteigen lassen und Zukunftsängste heraufbeschwören. Die Probleme erfassen in der Folge grundsätzlich alle Schulformen, wenngleich es hier Unterschiede in der Massivität der Belastungen gibt. Über alle Verbesserungswünsche und Lösungsvorschläge hinaus entstand der Eindruck, dass es für Lehrkräfte ein dominantes strukturelles Problem gibt, das sich insbesondere im Verhältnis zu den Schulämtern und deren Rolle zeigt. Dabei zeigt sich ein „empfundenes Defizit an Unterstützung und Wertschätzung“. Auch beim Anzeigeverhalten von Gewaltvorfällen und Aggressionen hat die Studie herausgearbeitet, dass Schulleitungen in vielen Fällen informiert werden und Bescheid wissen, weiterführende Maßnahmen, Unterstützung und Strafanzeigen durch die Schulämter kaum festzustellen sind. Ebenfalls wird in erheblichem Maße deutlich, dass Lehrkräfte zur Verbesserung des schulischen Alltags eine Integration gewaltpräventiver Maßnahmen mit entsprechender Ausbildung schon im Studium und in Fortbildungen begrüßen.
Die Studie „Gewalt gegen Lehrkräfte in Hessen“ ist die dritte Studie, die der dbb Hessen in Zusammenarbeit mit der Uni Gießen zum Thema „Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst“ auf den Weg gebracht hat. Seit vielen Jahren nun schon ist dies ein Schwerpunktthema der gewerkschaftlichen Arbeit. „Die Studie zeigt einmal mehr, dass in vielen Berufen das Thema Gewalt eine immer größere Rolle spielt“, sagt der Landesvorsitzende des dbb Hessen, Heini Schmitt. „Darum ist es für uns wichtig, am Thema dranzubleiben, die Probleme zu benennen und gemeinsam mit der Politik an Lösungsansätzen zu arbeiten.“
Hier die Studie zum Nachlesen:
Bannenberg Herden Pfeiffer - Gewalt gegen Lehrkräfte in Hessen_2023